Beatrice Maritz

nichts ist anders

Titel
nichts ist anders
Datum
2014
Originaltext

Nichts ist anders

Nichts ist anders. Die Ordnung der Dinge folgt einem eigenen Gesetz und vermisst damit mein Staunen. Der Hase erkennt sich drüben wieder – jetzt halb Hund. Paarung und Zellteilung könnten dasselbe sein. Der Stein fliegt frei und friedfertig. Seine irreguläre Bahn legt sich mit dem Symmetrischen nicht an. Jedes Universum hat seine Mitte. Heute scheren sich die borstigen Halme noch weniger darum als die lichte Zitrone, das Vogel- oder Federnschattenpaar. Raster sind Tiefe und nehmen Schwebendes mühelos in sich auf. Jedes Blatt das eigensinnige Zeugnis einer Versöhnung zwischen präzisem Plan und organischer Anwesenheit. Heute ist Zirkus ist Glasfensterspiel, das Licht bunt und in Parzellen. Diese laufen aufeinander zu und voneinander weg, immer den Bezug wahrend zu den Achsen, die das Bildfeld als begrenzten Raum eines beispielhaften Kosmos anerkennen. „Schöne Formen sehen“ ist die Übersetzung des griechischen Kaleidoskop, das alles Sichtbare in Farbpartikel mustert. Beatrice Maritz’ Kaleidoskope nehmen Tiere und Pflanzen von der kühnen Splitterung in Lichter aus. Schatten- oder schemenhaft, knochenlos und zart keimen sie im Licht und halten die Erinnerung ans Erneuern und Verwandeln.
Es ist schön, die Dinge, an die man nicht dachte, geordnet zu sehen. Im dichten Feld der bunten Impulse bleibt ein verlässlicher Takt und in der Gleichzeitigkeit der Phänomene das Zusammengehören von allem. Die lichte Tektonik ebnet das unversöhnliche Nebeneinander von Ereignissen und Geschwindigkeiten. Dabei sucht Beatrice Maritz nach einem Gleichgewicht, das sich dem Licht der rationalen Erklärbarkeit entzieht. Ihre Zeichenkunst baut sich nach eigenen Regeln auf, hält dem Verstand Überraschung entgegen und geht mit Wort und Sprache ein loses Bündnis ein. Nicht Haben ist dessen Tenor und nicht Wissen, sondern Sein und Werden. Gaben frühere Titel dem transparenten Leuchten von Farbstiftflächen Subjekte und Spuren von Erzählung mit, nehmen nun das Heute und das Jetzt eine Hauptrolle ein im verbalen Wegleitsystem. Vergegenwärtigung ist die Signatur von Maritz’ künstlerischer Handschrift, und Wahrnehmung im Radius eines Pendelschlags die Basis ihrer Programmiersprache. Die Zeichnerin vertraut die Anleitung zu jedem einzelnen Blatt dem Pendel an, erfragt seine Masse und Gliederung, die Buntwerte und motivischen Einschlüsse. Ist ein Skript erstmals erstellt, versteht sie sich als Ausführende. Die augenscheinliche Sorgfaltspflicht gegenüber der handschriftlichen Partitur setzt auf gleichwertige Behandlung aller Details. Unscheinbare Richtungswechsel, linienbreite Zäsuren im kristallinen Gefüge lassen Farben aufeinanderprallen, bringen Flächen zum Leuchten. Die dichte Nachbarschaft an kleinen und grössen Intervallen weisen das Schauen als Kraftwerk einer feinstofflichen Energie aus. Im Konzentrat der ungewussten Sensationen offeriert dieses Zeichnen Räume des Aufenthalts, die mit musikalischem Erleben vergleichbar sind: „Sie schritten unterschiedliche Wege ab, ansteigende, abfallende, trafen sich, gingen auseinander, schufen Spannungsfelder, lösten sie wieder auf gingen weiter“, so das literarische Nachempfinden mehrstimmiger Chormusik der Renaissance. „Es war ein vollkommen neues Linien- und Flächensystem, in dem alles Ausdruck finden, also in Bewegung kommen konnte, ohne je an etwas anzustossen, ohne aber auch je in Bereiche zu verschwinden, in die ich nicht mitgegangen wäre.“ (1)
Es ist nicht leicht, zu benennen, was genau es ist, was uns im Sehen oder Hören in einen anderen Raum einlädt, eine Sehnsucht streift, das Unbewegliche in Bewegung versetzt. Wahrscheinlich muss die Ästhetik Mass nehmen an übergeordneten Koordinatensystemen und damit an einer Wellenlänge, die in der Kunst nicht isoliert bleibt. Wenn sich Beatrice Maritz zeichnerisch an einem inneren, sublimen Gerippe von Welt abarbeitet, entsteht jedenfalls diese Öffnung: Eine Gewissheit, dass Steine jubeln könnten und jedes Geheimnis einen Reichtum hütet.
Isabel Zürcher, November 2014

  1. Anne Duden, Übergang, Berlin: Rotbuch Verlag Berlin, 1982, S. 90.