Beatrice Maritz

DER ORT IST JETZT

Titel
DER ORT IST JETZT
Datum
2005
Originaltext

DER ORT IST JETZT – Isabel Zürcher, Oktober 2005

Nichts hat ein Gewicht, kein Ding wirft einen Schatten. Jeder Körper, jedes Zeichen ist mit seinem eigenen, buntfarbenen Schatten in Deckung. Als hätte es sich von selbst abgezeichnet, als wäre es zwanglos hingeworfen worden, stehen gelassen vor einer unsichtbaren Quelle regelmässigen Lichts. Schwerelos sind geometrische Figuren, amorphe Formen, Pflanzen, Tiere über die Blätter ausgelegt. Manchmal fügen sie sich in ein Raster von Linien, welche die Fläche symmetrisch unterteilen, sie auslegen als ein feines Netz, sich in immer kleiner werdende Spitzen verästeln oder als regelmässige Strahlen da und dort konzentrisch zusammenlaufen. Manchmal tritt ein lineares Gitter in den Hintergrund und lässt frei schwebenden Figuren den Vortritt.
Eigenwillig und verhalten, unbestechlich und zart zugleich sind die Zeichnungen von Beatrice Maritz. Ihr Prinzip ist die Überlagerung. Schicht für Schicht legen sich Farbflächen wie Folien übereinander. In nie nachlassender Konzentration des Farbauftrags entwerfen sie dichte Bildräume, die ebenso dem Traum wie der Erinnerung verpflichtet scheinen, dem Gesetz geometrischer Figuren wie der unübersichtlichen Vielfalt eines autonomen Kosmos. Hier zeigt sich die Einmaligkeit eines natürlich wachsenden Wesens, dort multipliziert sich dessen Silhouette und unterwirft sich einem übergeordneten Muster. Manchmal muss ein Tier, ein Ast, eine Scheibe die Mitte einnehmen und einfrieren als Zeichen, das über sich selbst hinaus weist.
«TOTE KAEFER LEBEN» – «ES BLUEHT EIN STEIN». Ein kurzer Text begleitet die geschlossenen Welten jedes Blattes. Mehr als bloss Titel, gibt er einen erzählerischen Impuls. Wenige Wörter fokussieren die Bildlektüre auf eine Bewegung, beschreiben einen Vorgang in der Natur, benennen ein beseeltes Wesen dies- oder jenseits unserer sichtbaren Reichweite: «DER TOTE SALAMANDER UND DER GEHENDE GLETSCHER HEIRATEN ES KEIMT EINE SONNE». Ähnlich wie ihr konkretes zeichnerisches Pendant erschliessen die Sätze Orte von eigener räumlicher und materieller Qualität. Sie sind ganz in der Gegenwart angesiedelt: «DER ORT IST JETZT». Die Formulierungen sind gezeichnet von einer Schlichtheit, die dem einzelnen Wort Gewicht gibt und jeden Zweifel an der Glaubwürdigkeit des scheinbar Unvereinbaren auslöscht: Das Blühen von Steinen ist möglich, und das Leben toter Käfer sehen wir auch.

Beiden Medien, der Zeichnung wie dem sie begleitenden Text, liegt dieselbe Methode zugrunde. Beatrice Maritz trifft die Entscheidungen, die jede neue Zeichnung voraussetzt – Blattgrösse, Motiv- und Farbwahl, Anzahl und Anordnung von Elementen auf der Fläche – mithilfe eines Pendels. Kreis- und halbkreisförmige Schemata erschliessen das Alphabet, Winkelgrade, fächern den Farbkreis oder Zahlenreihen auf. Die Pendelkarten sind Werkzeuge für Maritz’ eigenwillige Autorschaft. «Titel? - OHNE PREIS / Grösse? A4? + / Was kommt drauf? In Worten? + / OHREN MIT ROSEN». Anfänglich, so bei der ersten «gependelten Zeichnung» von 1996, hielt die Künstlerin den konzentrierten Dialog, in dem ihr das ausschlagende Pendel Anweisungen zur Komposition zuspielte, protokollarisch fest. Inzwischen setzt sie die Botschaften direkter um. Konzentriert, spielerisch und befreit vom Druck, das Originelle stets selbst neu zu entwerfen, gestattet sie sich – oft selbst überrascht von den visualisierten Ergebnissen – die Wahrnehmung zu erweitern und ihre Zeichnungen aus einer immateriellen Bildwelt zu nähren.
Damit liegt der Fokus ihrer künstlerischen Arbeit weniger auf der Erfindung als auf einem treuen Abbild einer Wirklichkeit, auf welche das Auge keinen direkten Zugriff hat. Zeichnend setzt Beatrice Maritz den Farbstift ein als Erzeuger von Lichtwerten in Flächen, die sie mit dem Pendel einkreist und auf deren Farbe und Form sie selbst möglichst geringen Einfluss nimmt. Eigenständiger könnte ihr Beitrag zur aktuellen Zeichnung dennoch nicht sein: Unvermischt mit der Flut medialer Bilder, speist er sich aus einem Universum, das sich gleichsam rein einen Weg sucht ins Bild, um hier aufzublühen und zu leben. Der weitgehende Verzicht auf eine eigene Deutungsmacht, der Verzicht auf Autorschaft im Sinne der eigenen, bewussten und deshalb wertenden Erfindung beschert uns ein Glück: Das Privileg, an einen Ursprung von Welt und einen Anfang von bildnerischer Sprache zu gelangen und Kontakt zu finden zu einer Heimat, die fern von Kitsch oder esoterischer Emphase tröstliche Botschaften bereit hält.
DER REGEN HOERT DIE ERDE.